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- Archiv 2011 -

Ein Jahr "Betreutes Wohnen" in Drispenstedt

Bei Lisbeth Schulz waren es die Treppen. 50 Jahre lang schaffte die Hildesheimerin den Aufstieg zu ihrer Wohnung im dritten Stock eines Hauses in der Hermann-Seeland-Straße ohne Probleme. Doch plötzlich, mit Anfang 80, fiel es ihr immer schwerer. „Schließlich dachte ich mir : Bevor es gar nicht mehr geht, ziehe ich lieber hierher", sagt Lisbeth Schulz.
„Hierher" - das ist die Anlage für betreutes Wohnen in der Hildebrandstraße. Vor gut einem Jahr wurde das Projekt der Gemeinnützigen Baugesellschaft ( gbg ) offiziell eröffnet. Seitdem können sich die Mitarbeiter vor Anfragen kaum retten. „Wir hatten kaum das Bauschild aufgestellt, da kamen schon die ersten Anrufe", erinnert sich Frank Satow, Pressesprecher der gbg. „Das hatten wir so nicht erwartet - das Projekt war ja auch für uns ein Versuchsballon", ergänzt Sabine Enger, Geschäftsstellenleiterin des Drispenstedter gbg-Stadtteilbüros.
39 barrierefreie Wohnungen gehören zu der Anlage, darunter 33 Zwei-Zimmer-Appartements zwischen 47 und 60 Quadratmetern sowie 6 Drei-Zimmer-Appartements mit 72 Quadratmetern. Die Miete beträgt für die kleinsten Wohnungen 450 Euro, die Drei-Zimmer-Wohnungen kosten etwa 650 Euro im Monat - alles inklusive Nebenkosten.
Hinzu kommt ein Zuschlag von 37 Euro im Monat. Davon wird ein 24-Stunden-Notrufsystem sowie die Betreuung durch den Arbeiter-Samariter-Bund ( ASB ) bezahlt : Drei Stunden täglich ist ASB-Mitarbeiterin Ida Odin vor Ort. „Die Betreuung kann nach Herzenslust erweitert werden", erklärt Sabine Enger. Nach dem Baustein-Prinzip können die Bewohner der Hildebrandstraße Service-Angebote wie Putz- und Haushaltshilfen dazu buchen. Für viele der Senioren zählt allerdings etwas anderes viel mehr - etwas, das sich mit Geld nicht aufwiegen lässt : die sozialen Kontakte, die sie in ihrem neuen Zuhause geknüpft haben. Regelmäßig organisiert Ida Odin Bastelvormittage, Gedächtnistrainings und Ausflüge. Einmal im Monat treffen sich die Bewohner außerdem zum gemeinsamen Frühstück im großen Aufenthaltsraum, auch an Weihnachten, Silvester und Fastnacht wird dort zusammen gefeiert.
„Dadurch ist eine gute Gemeinschaft entstanden", stellt Ida Odin fest. Viele Anregungen kämen von den Bewohnern selbst. „Frau Dörrie zum Beispiel hat vorher nie gebastelt. Jetzt kann sie gar nicht mehr aufhören und motiviert auch andere", sagt die ASB-Mitarbeiterin. Lilo Dörrie steht neben ihr und lächelt verschmitzt. „Basteln kann schon zur Sucht werden. Aber es hält den Geist fit", sagt die 73-Jährige. Auch bei ihr war es unter anderem die steile Treppe zu ihrer alten Wohnung, die sie zum Umzug bewegte. Die richtige Entscheidung, findet Lilo Dörrie heute.
Was ihr an der Wohnanlage in der Hildebrandstraße besonders gefällt : Wer möchte, findet dort Anschluss - wer aber lieber zurückgezogen lebt, kann auch dies tun. „Die Formulierung „betreutes Wohnen“ trifft es eigentlich nicht ganz - hausintern sprechen wir lieber von „Servicewohnen", stellt Satow fest. „Die Menschen leben eigenständig und versorgen sich zum Großteil selbst. Aber sie haben die Sicherheit, dass jemand in der Nähe ist, wenn sie es brauchen." Zwei, die es brauchten, sind Eva-Maria Wischstedt und Edith Jeske. Letztere lebte, nachdem ihr Mann verstorben war, fünf Jahre lang allein in ihrem Haus am Müggelsee. „Die Einsamkeit war schlimm", erinnert sich die 81-Jährige. Durch ihre Freundin Waltraud Klawunn erfuhr Edith Jeske von der Seniorenresidenz in der Hildebrandstraße und entschied schließlich : Dort möchte ich leben. „Natürlich musste ich erst durchrechnen, ob ich das bezahlen kann. Ich danke meinem Mann jeden Abend, dass er mir so eine gute Rente hinterlassen hat."
Auch Eva-Maria Wischstedt musste den Verlust ihres Mannes verkraften. Er starb fünf Monate, nachdem das Paar in die Hildebrandstraße gezogen war. „Ich wurde von allen hier aufgefangen - das wäre in einem normalen Mietshaus nicht möglich gewesen", stellt die 79-Jährige fest.
Trotz aller positiver Erfahrungen : Leicht gefallen ist der Schritt, aus der alten Wohnung in eine Seniorenresidenz zu ziehen, vielen Bewohnern nicht. „Das war schon gewöhnungsbedürftig - meinen Garten vermisse ich noch immer", sagt die 88-jährige Gerda Henze, zweitälteste Bewohnerin des Hauses. „Aber es wurde einfach Zeit für mich-und der Anschluss, den man hier schnell findet, hilft einem bei der Umgewöhnung."